Im Zentrum frühen Forschungsinteresses Maria Montessoris stand das wissenschaftliche Studium der Aufmerksamkeit, gefasst unter der Bezeichnung „psychische Re-aktionen“ sowie die experimentelle Untersuchung der Anregungsbedingungen. Für diesen Untersuchungsansatz griff Maria Montessori auf die einschlägigen Forschungsarbeiten von Jean Gaspard Itard und Eduard Séguin zurück. Maria Montessori war außerdem von einem ihr äußerst wichtigen Forschungsinteresse bei diesen Studien geleitet: dem Studium der Entwicklung des Kindes, und zwar nicht als Voraussetzung erster kinderpsychologischer Erkenntnisse, sondern als Beobachtung kindlicher Selbstäußerungen unter Gewährung von Entwicklungsfreiheit in konkret gestalteten pädagogisch-didaktischen Situationen. (Holtstiege, Hildegard, Maria Montessori und die reformpädagogische Bewegung)
Siehe auch: Eichelberger, Harald: Handbuch der Montessori-Didaktik. Innsbruck 1997. StudienVerlag.
Harald Eichelberger
Maria Montessori – der Zugang zum Selbstbildungsprozess
„Lernen ist ein dynamischer Prozess, an dem die Gesamtpersönlichkeit des Kindes aktiv beteiligt sein muss.“[1] Mario Montessori
Im Zentrum frühen Forschungsinteresses Maria Montessoris stand das wissenschaftliche Studium der Aufmerksamkeit, gefasst unter der Bezeichnung „psychische Re-aktionen“ sowie die experimentelle Untersuchung der Anregungsbedingungen. Für diesen Untersuchungsansatz griff Maria Montessori auf die einschlägigen Forschungsarbeiten von Jean Gaspard Itard und Eduard Séguin zurück. Maria Montessori war außerdem von einem ihr äußerst wichtigen Forschungsinteresse bei diesen Studien geleitet: dem Studium der Entwicklung des Kindes, und zwar nicht als Voraussetzung erster kinderpsychologischer Erkenntnisse, sondern als Beobachtung kindlicher Selbstäußerungen unter Gewährung von Entwicklungsfreiheit in konkret gestalteten pädagogisch-didaktischen Situationen. [2]
Langwierige und in der Stille betriebene Versuche, zu denen sie von Jean Gaspard Itard und Eduard Séguin angeregt wurde, bezeichnet Montessori als ihren ersten Beitrag zu Erziehung. Die eigentliche Experimentalphase war die Zeit von 1898 bis 1900, in der sie die Scuola Ortofrenica leitete.
Die Gestaltung des römischen Kinderhauses in San Lorenzo stellte bereits die Anwendung dieses Beitrages dar und brachte eine Entdeckung, die zum Kristallisationspunkt aller weiteren experimentalpsychologischen Forschung wurde – die Polarisation der Aufmerksamkeit.
Die Polarisation der Aufmerksamkeit
Die Polarisation der Aufmerksamkeit ist das Schlüsselphänomen, dessen Entdeckung Maria Montessori den Zugang zu einer wirksamen Unterstützung kindlicher Entwicklung gewiesen hat. Sie nennt dieses Phänomen „einen wichtigen Stützpunkt, auf dem sich die kindliche Arbeit aufbaut.“ [3] Das Phänomen der Polarisation der Aufmerksamkeit entdeckte Maria Montessori bei der Beobachtung eines dreijährigen Mädchens, das sich mit den Einsatzzylindern beschäftigte:
„Zu Anfang beobachtete ich die Kleine, ohne sie zu stören, und begann zu zählen, wie oft sie die Übung wiederholte, aber dann als ich sah, dass sie sehr lange damit fortfuhr, nahm ich das Stühlchen, auf dem sie saß, und stellte Stühlchen und Mädchen auf den Tisch; die Kleine sammelte schnell ihr Steckspiel auf, stellte den Holzblock auf die Armlehnen des kleinen Sessels, legte sich die Zylinder in den Schoß und fuhr mit ihrer Arbeit fort. Da forderte ich alle Kinder auf zu singen; sie sangen, aber das Mädchen fuhr unbeirrt fort, seine Übung zu wiederholen, auch nachdem das kurze Lied beendet war. Ich hatte 44 Übungen gezählt; und als es endlich aufhörte, tat es dies unabhängig von den Anreizen der Umgebung, die es hätten stören können; und das Mädchen schaute zufrieden um sich, als erwachte es aus einem erholsamen Schlaf.“ [4]
Über die pädagogische Bedeutung dieses Phänomens schrieb Maria Montessori:
„Dies ist offenbar der Schlüssel der ganzen Pädagogik: diese kostbaren Augenblicke der Konzentration zu erkennen, um sie beim Unterricht in Lesen, Schreiben, Rechnen, später in Grammatik, Mathematik und Fremdsprachen auszunützen. Alle Psychologen sind sich übrigens darin einig, dass es nur eine Art des Lehrens gibt: tiefstes Interesse und damit lebhafte und andauernde Aufmerksamkeit bei den Schülern zu erwecken.“ [5]
Die Bedingungen für die Ermöglichung dieses Phänomens der Konzentration sind den pädagogischen Prinzipien der Montessori-Pädagogik immanent. Die grundlegende Bedingung ist die Beachtung sensibler Phasen. Lehrerinnen können nicht immer die sensiblen Phasen aller Kinder kennen. Darum müssen sie es den Kindern überlassen, welche Interessen und Bedürfnisse für sie im Vordergrund stehen und was sie aus der vorbereiteten Umgebung auswählen und damit lernen wollen. Dazu muss immer ein Angebot von angemessenen Übungen und Materialien bereitstehen. Die vorbereitete Umgebung muss auch so strukturiert sein, dass sie eine innere Leitfunktion für die selbständige Entwicklung kindlicher Intellektualität und Personalität enthält. Die Leitfunktion der vorbereiteten Umgebung veranlasst die Lehrerin meist nur zu einem indirekten Eingreifen. Sie reagiert auf die kindlichen Bedürfnisse. Als Leitgedanke des Handelns der Lehrerin gilt der Ausspruch des kleinen Kindes zu Maria Montessori: „Hilf mir, es selbst zu tun!“
Mit dieser Entdeckung hatte Maria Montessori endgültig einen Zugang zum kindlichen Selbstbildungsprozess gefunden. Die weitere Frage richtete sich auf die systematisch herstellbaren Bedingungen für das Auftreten bzw. Eintreten des Phänomens – die Frage nach der vorbereiteten Umgebung, die Frage nach dem Auftreten der sensiblen Perioden sind grundlegende Bedingungen für das Auftreten der Polarisation der Aufmerksamkeit. Weitere Konditionen sind in der Freiheit der Initiative und der Freiheit der Wahl zu sehen und zu finden. Das Verhältnis zwischen Schülern und Lehrern ist geprägt von einem unbedingten Vertrauen, dass Kinder wissen, was sie lernen wollen und dass Kinder erfüllt sind von einem weiteren Phänomen: dem absorbierenden Geist.
Der absorbierende Geist
„Diese Form der Aktivität offenbart eine unbewusste Kraft, die nur dem Kinde zu eigen ist.“ Maria Montessori
„Wir Erwachsenen nehmen die Umwelt nur in unserem Gedächtnis auf, während sich das Kind an die Umwelt anpasst. Diese Form des vitalen Gedächtnisses, das sich nicht bewusst erinnert, sondern das Bild in das Leben des Individuums absorbiert, erhielt von Percy Nunn einen besonderen Namen: „Mneme“… Im Kind besteht für alles, was es umgibt, eine absorbierende Sensitivität …“[6]
Mit dem Begriff des „absorbierenden Geistes“ bezeichnet Maria Montessori auch die Umwelt integrierende Produktivität des Kindes. So schreibt sie in ihrem Alterswerk „Das kreative Kind“, das ursprünglich 1848/49 in Indien unter dem englischen Titel „The Absorbent Mind“ erschienen ist:
„Wir sind Aufnehmende; wir füllen uns mit Eindrücken und behalten sie in unserem Gedächtnis, werden aber nie eins mit ihnen, so wie das Wasser vom Glas getrennt bleibt. Das Kind hingegen erfährt eine Veränderung: Die Eindrücke dringen nicht nur in seinen Geist ein, sondern formen ihn. Die Eindrücke inkarnieren sich in ihm. Das Kind schafft gleichsam sein „geistiges Fleisch“ im Umgang mit den Dingen seiner Umgebung. Wir haben seine Geistesform absorbierenden Geist genannt. Es ist schwierig für uns, die Fähigkeiten des kindlichen Geistes zu begreifen, aber es handelt sich zweifellos um eine privilegierte Geistesform.“.[7]
In „Das kreative Kind“ stellt Maria Montessori nochmals und deutlicher als in „Kinder sind anders“ heraus, dass die kindliche Natur unbewusst menschliche Geisteskraft hervorbringt:
„Das Kind verfügt über andere Kräfte, und die Schöpfung, die es vollbringt, ist keine Kleinigkeit: die Schöpfung des Ganzen. Es schafft nicht nur Sprache sondern formt auch die Organe, die es ihm ermöglichen zu sprechen. Jede körperliche Bewegung, jedes Element unserer Intelligenz, alles, womit das menschliche Individuum ausgestattet ist, wird vom Kind geschaffen.“[8]
Deutlich veranschaulicht Maria Montessori mit dem Begriff des absorbierenden Geistes das schöpferische Kräftepotential des Kindes. Kinder sind anders, und Kinder lernen auch anders als Erwachsene. Maria Montessori wie Jean Piaget verweisen hier deutlich auf die Eigenbedeutung der Kindheit, womit sie betonen, dass Kindheit nicht nur als Vorbereitung auf das Erwachsensein gesehen werden kann: Beide schreiben übereinstimmend, dass die intellektuellen und moralischen Strukturen des Kindes von denen der Erwachsenen grundsätzlich verschieden sind, dass aber das Kind dem Erwachsenen in seinen wichtigsten Funktionen sehr ähnlich ist. Wie er ist es ein aktives Wesen, und seine Aktivität unterliegt den Gesetzen des Interesses und innerer und äußerer Bedürfnisse. Jean Piaget veranschaulicht diesen Sachverhalt mit dem bekannten Beispiel von der Kaulquappe und dem Frosch. Beide brauchen Sauerstoff, doch um ihn aufzunehmen, atmet die Kaulquappe mit einem anderen Organ als der Frosch. In ähnelt das Kind weitgehend wie der Erwachsene, doch mit einer Mentalität, deren Strukturen je nach seinem Alter verschieden sind.[9]
Genauso verfügen Kinder über eine „unbewusste Intelligenz“, die ihnen Lernen in Dimensionen ermöglicht, über die wir Erwachsene nur mehr unvollkommen verfügen. Als Beispiel kann uns hier unter anderem die gigantische Leistung des Spracherwerbs dienen. Kinder sind fähig, Wissen in sich aufzunehmen, scheinbar ohne Anstrengung und ganz von selbst. In weiten Bereichen des Buches „The Asorbent Mind“ beschäftigt sich Maria Montessori daher auch mit der Beschreibung der kindlichen Sprach- und Bewegungsentwicklung als imponierendem Beispiel der Sensibilität des absorbierenden Geistes.
Aber alle hier dargestellten pädagogischen Grundgedanken dienen letztlich der Unterstützung der These Maria Montessoris, ihre Entwicklungspädagogik stehe im Dienst der Liebe zum Kind und der kindlichen Liebe zur Wirklichkeit:
„Das Kind ist eine Quelle der Liebe. Kommt man mit ihm in Berührung, berührt man die Liebe. Es ist eine schwer zu definierende Liebe.“ [10]
In einer für das Kind vorbereiteten Umgebung und in der behutsamen Beobachtung der sensiblen Phasen können wir die tiefe Bedeutung der Polarisation der Aufmerksamkeit und des absorbierenden Geistes in seiner pädagogischen Dimension für das Kind erkennen.
Maria Montessori schuf zwar ein integriertes Gesamtcurriculum für den elementaren Bildungsbereich,[11] doch liegen die didaktischen Schwerpunkte eindeutig – in der Reihenfolge der Aufzählung – im Bereich der Mathematik, der Sprache und der Naturwissenschaften, der Kosmischen Erziehung. Der musisch-künstlerische Bereich wurde bereits in der Frühzeit[12] der Montessori-Pädagogik von anderen didaktischen Konzepten übernommen. Das Curriculum Maria Montessoris für den elementaren Bildungsbereich wird an anderen Stellen als „geschlossenes didaktisches System“ bezeichnet[13], wobei der Begriff System zu viel versprechen könnte.
Freiheit – Kennzeichen menschlichen Geistes
Wir werden dem Begriff der Freiheit in der Diskussion der reformpädagogischen Modelle als Grundlage für eine kindgemäße Pädagogik immer wieder begegnen. Freiheit wird immer wieder im Zusammenhang mit der Entwicklung des Menschen ausgewiesen, als eine Bedingung der Entwicklung des Menschen zu seiner Persönlichkeit. In diesem Verständnis wird Freiheit als Notwendigkeit gesehen, als Freiheit, um etwas zu erreichen, etwas zu finden … sich selbst.
Wie Hildegard Holtstiege berichtet, sagt Maria Montessori von ihrer vierzigjährigen Praxis, dass sie immer wieder dem Phänomen sich entwickelnder kindlicher Handlungsfreiheit als Ausdruck menschlicher Wesensart begegnet sei, sofern die kindliche Aktivität freigegeben wurde. Sie bezeichnet dieses beobachtbar vorhandene Bedürfnis nach selbstständigem Handeln als einen durch Entwicklung zu integrierenden „Bestandteil menschlichen Handelns“.[14]
Maria Montessori spricht von einer „schöpferischen menschlichen Kraft“[15], die auf die Eroberung von Unabhängigkeit und Freiheit ausgerichtet ist. Die Erringung der Freiheit und Unabhängigkeit gehört zu den Wesensbestimmungen des Menschen[16] und sind Basis für die Entwicklung des Individuums zu seiner Persönlichkeit.
Die Freiheit – meint Maria Montessori – muss durch ihren Vollzug als Teil der Persönlichkeit aufgebaut werden. Freiheit ist an die Entwicklung des Kindes in der Weise gebunden, dass sich dieses nur dann seinem Wesen gemäß entfalten kann, wenn die Freiheit auch als Selbstvollzug gewollt ist. Das Ziel des Menschen besteht letztlich darin, „seine eigene Unabhängigkeit und damit verbunden, sein moralisches Gleichgewicht zu finden.“[17]
Durch zielgerichtete spontane Aktivität „erlangt das Kind seine Freiheit“.[18] Ausgestattet mit spontaner Aktivität zu freien Handlungsweisen strebt das menschliche Wesen nach dem Vollzug von Freiheit. Maria Montessori betrachtet dieses Streben als einen Vorgang ständiger Erringung durch ständige Tätigkeit, von ihr auch als Arbeit bezeichnet. Sie nennt diese Arbeit auch den „Grundstein für die Freiheit“.[19]
Die Freiheit des Menschen drückt sich nach Maria Montessori in der spontanen Aktivität des Menschen aus und wird somit zu einem spezifischen Kennzeichen des Menschen. Daher steht in der Montessori-Pädagogik die pädagogische Konkretisierung spontaner Aktivität im Vordergrund. Die spontane Aktivität findet ihren konkreten Ausdruck in der Polarisation der Aufmerksamkeit.
„Wenn es eine geistige Kraft ist, die im Kinde wirkt und es durch sie (die Kraft – Anm. d. Verf.) die Pforten seiner Aufmerksamkeit öffnen kann, ist der Aufbau seines Verstandes nicht notwendig ein Problem pädagogischer Kunst, sondern notwendiger Weise ein Problem der Freiheit. Mit äußeren Gegenständen den inneren Bedürfnissen entsprechende Nahrung zu geben und in vollkommenster Weise die Freiheit der Entwicklung respektieren zu lernen, das sind die Fundament, die logischer Weise für den Aufbau einer neuen Pädagogik gelegt werden müssen.“[20]
Eine weitere wesentliche Beobachtung beschreibt Maria Montessori in der notwendigen inhaltlichen und räumlichen Begrenzung zur effektiven Freigabe der kindlichen spontanen Aktivität. Diese räumliche Begrenzung beschreibt sie ausführlich in der Vorbereiteten Umgebung und in der Beschaffenheit der Entwicklungsmaterialien.
Zur vorbereiteten Umgebung
Nicht nur ein Bild der pädagogischen Struktur, sondern deren unabdingbare Voraussetzung ist die vorbereitete Umgebung, in der die Entwicklungsmaterialien, nach didaktischen Gesichtspunkten geordnet, den Kindern angeboten werden. Es sind dies
die Entwicklungsmaterialien für die Übungen des täglichen Lebens, die „ … dem Menschen helfen, sein inneres Gleichgewicht, seine seelische Gesundheit und sein Orientierungsvermögen unter den gegenwärtigen Umständen in der äußeren Welt zu bewahren,“ [21]
- die Entwicklungsmaterialien für die Entwicklung der Sinne des Kindes und
- die so genannten didaktischen Materialien, für die Entwicklung der mathematischen, sprachlichen und naturwissenschaftlichen Fähigkeiten des Kindes.
Zu den Materialien der Übungen des täglichen Lebens werden in der Montessori-Pädagogik z.B. „Übungen des Schüttens“, „Übungen des Löffelns“, „Übungen der Sorge für sich selbst, wie z. B: Naseputzen oder Kämmen“, „Übungen der Sorge für die Umgebung“ oder einfach auch „einen Stuhl tragen“ gezählt. Bei den Sinnesmaterialien finden wir Übungen zur Sensibilisierung des Gehörsinnes mit Geräuschbüchsen, Übungen zu Sensibilisierung des Tastsinnes mit Materialien verschiedener Rauigkeiten und a. m. Bekannt und berühmt sind vor allem die didaktischen Materialien zur Mathematik, wie z.B. die „Blauroten Stangen zum ersten Zählen“, der „Rosa Turm und die Braune Treppe zum Begreifen von Dimensionen“, oder der „Binomische Kubus zum ersten Verstehen grundlegender mathematischer Strukturen“.
Die angepasste oder vorbereitete und entspannte Umgebung muss so beschaffen sein, dass sie die Selbständigkeit des Kindes fördert mit dem Ziel, dass das Kind durch seine eigene Aktivität den Aufbau (die zunehmende Organisation) seiner Persönlichkeit vollziehen kann. Das wiederum ist nur möglich durch entsprechende Interaktion mit seiner Umgebung. Die Umgebung muss klar gegliedert und für das Kind überschaubar sein.
„Wir bieten dem Kind mit dem Material geordnete Reize an und lehren also nicht direkt, wie man es sonst mit kleinen Kindern zu tun pflegt, sondern vielmehr durch eine Ordnung, die im Material liegt und die das Kind sich selbständig erarbeiten kann. Wir müssen alles in der Umgebung, also auch alle Gegenstände soweit für das Kind vorbereiten, dass es jede Tätigkeit selbst ausführen kann. [22]
Die didaktisch vorbereitete Umgebung muss auch so beschaffen sein, dass sie Aufforderungscharakter zum Handeln besitzt. Das Kind muss die Freiheit der Bewegung und Initiative haben, um aus den angebotenen Mitteln seine eigene Wahl treffen zu können. Mit Hilfe des Entwicklungsmaterials ist es den Kindern möglich, ihre intellektuellen, psychischen und motorischen Fähigkeiten zu entwickeln. Innerhalb der sensiblen Perioden gelingt dies besonders gut. Kinder können mit diesen Materialien selbständig arbeiten und lernen.
Merkmale der Materialien
Bei allen Materialgruppen finden wir durchgehend
- das Prinzip der Isolation der Schwierigkeiten,
- das Merkmal der Ästhetik und
- das Merkmal der Selbstkontrolle.
Die Materialien sind so konstruiert, dass sich das Kind bei der Arbeit immer auf eine zu erlernende „Schwierigkeit“ konzentrieren kann. So können sich Kinder z.B. beim Erlernen der Multiplikation mit dem großen Multiplikationsbrett auf das Erlernen der Multiplikation als solche konzentrieren, ohne dass sie dabei durch komplizierte Rechenoperationen abgelenkt werden. Die Selbstkontrolle dient der Entwicklung wesentlicher Eigenschaften und Fähigkeiten der Schüler: Die Schüler sollen ihre Arbeit selbstverantwortlich und ehrlich kontrollieren können.
Die vorbereitete Umgebung, in der diese Materialien den Kindern zur Verfügung stehen, bildet einen Ordnungsrahmen für die Arbeit der Kinder. Kinder wählen die Materialien selbst aus, können auch selbständig und selbsttätig mit diesen arbeiten oder erhalten von der Lehrerin eine Lektion, wie mit dem Material gearbeitet werden kann. Die vorbereitete Umgebung ist jene pädagogische Struktur, die für jede Art des so genannten offenen Unterrichtes unbedingt notwendig ist. Kinder bedürfen eines klaren pädagogischen Rahmens, der ihnen Orientierung bietet und der selbständiges Arbeiten überhaupt erst ermöglicht.
Neben der vorbereiteten Umgebung ist aber vor allem das Erzieherverhalten ein wesentlicher Grundpfeiler einer Erziehung, die es dem Kinde erlaubt, es selbst zu werden. Die eigentliche Aufgabe, die den Erzieherinnen bzw. Lehrerinnen bei der Arbeit mit dem Entwicklungsmaterial zugewiesen wird, besteht in der Wahrnehmung einer Mittlerrolle zwischen Kind und der vorbereiteten Umgebung mit den Entwicklungsmaterialien. Diese Mittlerrolle ist sehr diffizil und anspruchsvoll, denn das Material ist nur ein Anknüpfungspunkt für eine verstandesmäßige Verbindung zwischen Lehrerinnen, die Gedanken übermitteln und Kindern, die diese übernehmen.[23]
Grundlegende Anforderungen an eine vorbereitete Umgebung ergeben sich ebenso aus dem Bemühen, Bedingungen für die Polarisation der Aufmerksamkeit zu schaffen und der Bewegung des Kindes als unerlässlichen Faktor für den Aufbau des Bewusstseins den nötigen Raum einzuräumen:
- Der Unterrichtsraum sollte so groß sein, dass die größere Hälfte des Bodens frei bleiben kann.
- Die entwickelten didaktischen Materialien werden in Regalen zur freien Wahl der Kinder bereitgestellt.
- Hinsichtlich der Zeit wird der Wegfall der Stundeneinteilung erforderlich.
- Ein verbindlicher (starrer) Stundenplan und das Prinzip eines durchgängigen Klassenunterrichtes werden aufgegeben.
- Zentrum des schulischen Arbeiten und Lebens ist die Freiarbeit.
Zur Freiarbeit
In der Freiarbeit wählt das Kind nach seinen eigenen Interessen und Bedürfnissen aus den Materialien der vorbereiteten Umgebung aus, womit es arbeiten möchte. Es entscheidet sich auch, ob es alleine arbeiten, oder diese Arbeit lieber mit jemand anderen gemeinsam tun möchte. Es entscheidet auch – meist doch gemeinsam mit der Lehrerin – ob es eine Darbietung mit diesem Material benötigt, oder lieber selbst entdecken will. Nach der Arbeit wird das Kind das Material wieder an dessen Platz im Regal zurückbringen, damit dieses Material von den anderen Kindern wieder benützt werden kann. So arbeiten Kinder in der Freiheit ihrer Entscheidung und ihrer Verantwortung für sich selbst. Freisein bedeutet nach Maria Montessori vor allem die Freiheit für die eigene individuelle Entwicklung des Kindes und auch der Lehrerin oder des Lehrers.
„Wenn man in der Erziehung von der Freiheit des Kindes spricht, vergisst man oft, dass Freiheit nicht mit Sich-überlassen-Sein gleichbedeutend ist. Das Kind einfach freilassen, damit es tut, was es will, heißt nicht, es frei machen.
Die Freiheit ist immer eine große positive Errungenschaft; man kann sie nicht leicht erlangen. Man gewinnt sie nicht einfach dadurch, dass man Tyrannei beseitigt, Ketten zerbricht.
Freiheit ist Aufbau; man muss sie aufrichten sowohl in der Umwelt wie in sich selbst. Hierin besteht unsere eigentliche Aufgabe, die einzige Hilfe, die wir dem Kind reichen können.“ [24]
Dieser Prozess einer intensiven persönlichen Entwicklung, eines intensiven individuellen Lernens bedarf einer für alle Beteiligten einsichtigen und akzeptierbaren pädagogischen Struktur. Das Ziel aller Erziehungsbemühungen ist für Maria Montessori die aktive Förderung kindlicher Unabhängigkeit und Selbständigkeit durch Selbsttätigkeit. Und an gleicher Stelle zitiert Hildegard Holtstiege Maria Montessori mit einer anderen Umschreibung dieser Erziehungsabsicht: „Meister seiner selbst zu sein“, ein Zustand, der gleichbedeutend ist mit Freiheit.
Die Arbeit mit den didaktischen Materialien für Sprache, Mathematik oder die Kosmische Erziehung ist zwar ein wesentlicher Bestandteil der Montessori-Pädagogik, aber bei weitem nicht die vollständige Anwendung der Erziehungskonzeption Maria Montessoris. Anderseits ist der Einsatz des Materials unumgänglich beim individuellen Lernen und in seiner didaktischen Effektivität und seinem didaktisch-methodischen Aufbau unübertroffen. Hier dürfen wir zur Erläuterung Jean Piaget zitieren: Für ihn besteht kein Zweifel, dass die wirkliche Bedeutung der mathematischen Erziehung lange vor der Handhabung von Symbolen im intelligenten Gebrauch konkreter Gegenstände liegt. Das didaktische Material ermöglicht den intelligenten Gebrauch konkreter Gegenstände im Sinne des ganzheitlichen Lernens mit Kopf, Herz und Hand. Wer bereit ist, sich in die Arbeit mit den Montessori-Materialien einzulassen, wird diesen zutiefst pädagogischen Satz Jean Piagets erleben und auch erahnen können, was er für das Lernen und Leben unserer Kinder bedeuten kann. Auch Erwachsene können z.B. mathematische Strukturen in einer lustvollen Arbeit immer wieder neu entdecken.
Die wichtigsten Arbeiten sind jedoch sicher nicht in der Arbeit mit Materialien, sondern in einer reichhaltigen Kommunikation und einer positiven Emotionalität und vor allem in der Möglichkeit des Aufbaus einer Beziehungskompetenz durch die Möglichkeit der Selbst bestimmung in der Gruppe zu sehen.
Kosmische Erziehung
Das Konzept einer Kosmischen Erziehung erstreckt sich auf die gesamte erzieherische und schulische Arbeit in der Montessori-Pädagogik. Sie ist nicht nur das Konzept für die Arbeit in den Naturwissenschaften, sondern ebenso für die Arbeit in der Mathematik und die Arbeit mit der Sprache. Die Kosmische Erziehung ist gleichsam der Überbau der Pädagogik Maria Montessoris. Sie enthält die wesentlichen Leitgedanken dieser Pädagogik: Kinder sollen befähigt werden, sich selbst eine Vorstellung bilden zu können. Nur so können sie sie selbst werden. Wegen der „übergeordneten“ Bedeutung der Kosmischen Erziehung wird ihr hier auch der entsprechende Raum gegeben.
Maria Montessori hat ihr pädagogisches Konzept einer Kosmischen Erziehung auf der Grundlage ihrer individuellen kosmischen Vorstellung und ihrer eigenen imaginativen Sicht der kindlichen Entwicklung geschaffen. Sie ging davon aus, dass der gesamten Schöpfung ein einheitlicher „Plan“ zugrunde liegt: Unsere Erde, die Natur, stellt eine Ganzheit dar, in der jedes Teil, jede Pflanze und jedes Lebewesen eine Aufgabe für das Ganze erfüllt. Umgekehrt dient das Ganze den einzelnen Teilen. Dadurch wird ein harmonisches Zusammenwirken erzielt und erhalten.[25] Zur Erklärung führt sie die ihrer Meinung nach ersten glänzenden Beispiele an, die Darwin über das enge Zusammenwirken zwischen blühenden Pflanzen und Insekten gegeben hat. Das Insekt, das ausfliegt, seine Nahrung in der Blüte der Pflanze zu suchen, führt unbewusst eine altruistische Aufgabe aus: die Bestäubung der Blüten. Es sichert auf diese Weise die Kreuzung und das Überleben der Pflanzen. Ähnlich führen alle anderen Lebewesen z.B. durch den Prozess ihrer eigenen Ernährung oder der Nahrungssuche eine „kosmische“ Aufgabe aus, die dazu beiträgt, die Natur in einem harmonischen Zustand der Reinheit zu erhalten.[26]
Innerhalb des Systems nimmt der Mensch eine Sonderstellung ein. Während die Natur unbewusst ihren vorbestimmten „Plan“ erfüllt, kann er Entscheidungen treffen. Der Mensch übt eine Veränderung auf die Natur aus. Diese Veränderung ist (… das wissen wir besonders heute in einer Zeit der Umweltkatastrophen …) nicht immer positiv für die Natur – den Kosmos. Maria Montessori sieht den Menschen eingebunden in einen kosmischen Schöpfungsplan. Ihre erklärte Vorstellung war die einer einzigen universalen harmonischen Gesellschaft, in der gegenseitige Achtung, Hilfe für den Schwächeren, Dankbarkeit und Liebe vorherrschende Tugenden sind. Die Sonderstellung des Menschen besteht vor allem auch darin, dass – wie wir annehmen – der Mensch als einziges Lebewesen dieser Erde über Bewusstsein seines Tuns verfügt und daher die Folgen seiner Handlungen abschätzen kann. Nur er kann in Zukunft und Vergangenheit denken. Daraus resultiert, dass er als einziges Lebewesen bewusst Verantwortung übernehmen kann und – moralisch gesehen – auch muss. Kosmische Erziehung ist daher auch zu einem wesentlichen Teil Erziehung zur Verantwortung sich selbst, den Mitmenschen und der Umwelt gegenüber. Die Kosmische Erziehung soll dem Menschen helfen, sich seiner kosmischen Aufgabe bewusst zu werden: „Das Werk der Schöpfung fortzusetzen“ (nicht in egoistischer Ausbeutung, sondern im „Dienst“ an dieser Schöpfung).
Maria Montessoris Hoffnung war es, durch eine Kosmische Erziehung das Gewissen und die Verantwortung der Menschen in Harmonie vereinigen zu können. Viele der Vorstellungen Maria Montessoris muten idealistisch an, haben aber heutzutage besondere Aktualität. Ihre Gedanken haben unsere im Wandel begriffene Einstellung zur Natur vor mehr als einem halben Jahrhundert schon vorweggenommen. Nicht als Herren der Schöpfung dürfen wir uns verstehen, sondern als Teil eines Ganzen. Kosmische Erziehung bedeutet für Maria Montessori, dass sich Kinder in ihrer gesamten Persönlichkeit (als Teil des Kosmos) begreifen, verstehen und auch fühlen können.
Aufgabe einer Kosmischen Erziehung ist es nicht nur, dem Kind eine Vorstellung vom Zusammenspiel der Natur und des Menschen zu vermitteln, sondern auch, dem Kind zu helfen, selbst eine Vorstellung vom Werden, dem Sein und den Veränderungen in diesem Universum bilden zu können, vor allem, seine eigene höchst individuelle Vorstellung und seine Imaginationskraft entwickeln zu können.
Zur Imagination
Eine der faszinierendsten Eigenschaften von Maria Montessori war ihre Fähigkeit, das heutige Leben mit dem Leben in weit zurückliegender Vergangenheit in Zusammenhang bringen zu können. Ein einfacher Anlass konnte sie bewegen, einen panoramaartigen Überblick über die Entwicklung des Menschen bis zur Gegenwart zu entwerfen, wobei sie das Vorstellungsvermögen ihrer Zuhörer unwiderstehlich stimulierte.
Ihr Sohn Mario Montessori schreibt, dass ihre Entwicklung der Kosmischen Erziehung aus dieser ungewöhnlichen Fähigkeit erwuchs, Gegenwart und Vergangenheit durch imaginatives Denken zu verknüpfen. Wie sie selbst darlegte, (ist)
„ … die imaginative Sicht von der bloßen Wahrnehmung eines Gegenstandes gänzlich verschieden, denn sie hat keine Grenzen. Die Imagination kann nicht nur unendlich Räume durchmessen, sondern auch unendliche Zeitspannen; wir können die Epochen nach rückwärts verfolgen und eine Vision der Erde haben, wie sie damals war, mitsamt den Geschöpfen, die sie damals bewohnten. Um zu erfahren, ob ein Kind etwas verstanden hat oder nicht, sollten wir zu ermitteln versuchen, ob es sich eine geistige Vorstellung davon bilden kann, ob es über die Ebene des bloßen Verstehens hinausgegangen ist … Das Geheimnis eines guten Unterrichts ist es, die Intelligenz des Kindes als eine fruchtbares Feld anzusehen, auf dem Saat ausgestreut werden kann, um in der Wärme der feurigen Imagination zu keimen. Deshalb ist es nicht nur unser Ziel, das Kind etwas verstehen zu lassen und, weniger noch, es zu zwingen, etwas im Gedächtnis zu behalten, sondern seine Imagination zu berühren, dass sein innerster Kern begeistert wird.“ [27]
Maria Montessori strebt im Unterricht und in ihrem Konzept einer Kosmischen Erziehung nicht bloß die Ausstattung des Kindes mit Wissen an. So wäre ihr auch das Wissen um ökologische Zusammenhänge als Bildungsfaktor für die Entwicklung des kindlichen Geistes zu wenig gewesen; selbst mit der Stufe des Verstehens gibt sie sich in ihrer Konzeption noch nicht zufrieden. Sie möchte vielmehr, dass Menschen „aus sich heraus“ mit unserer Hilfe ihre eigene Vorstellung (Imagination) von sich, der Natur und der Schöpfung bilden können. Sie beschreibt hier eine Qualität im Erziehungsgeschehen, die auch heute wahrscheinlich nur wenige Kinder genießen können. Vorstellungen bilden und Wahrheiten entdecken zu können, hat auf die moralischen Einstellungen und die Bildung der humanistischen Werte eines Menschen einen großen Einfluss. Ich wage in diesem Zusammenhang die Hypothese, dass Menschen, die ihre eigenen Vorstellungen bilden durften, mit sich, ihren Mitmenschen und ihrer Umwelt moralisch verantwortungsvoller umgehen. Vielleicht ist dies sogar die Voraussetzung zur Friedfähigkeit.
So wird es nach dem Konzept von Maria Montessori möglich sein, die Richtung zu prüfen, in die wir gehen, und Perspektiven zu entwerfen, nach denen man die Dinge so beeinflussen kann, dass wir mit unserer Anpassungsfähigkeit, unserer Intelligenz und unserer Kreativität einen konstruktiven Weg finden, mit dieser unserer Welt umzugehen – einer Welt, die ein wunderbarer Raum ist, um darin zu leben.
Die Sicht des Kindes
Die Sicht von der kindlichen Entwicklung in der Montessori-Pädagogik wird auch durch die grundsätzliche Frage Jean Piagets charakterisiert:
„ … ob denn die Kindheit nur ein notwendiges Übel sei, das man so schnell wie möglich beseitigen solle, oder ob wir verstehen können, dass Kindheit einen tieferen Sinn habe, den uns das Kind durch eine spontane Aktivität aufzeigen kann und den es in möglichst reichem Maße auskosten sollte.“ [28]
Nach diesem eindeutigen Verweis Jean Piagets auf die Eigenbedeutung der Kindheit, besteht Piaget darauf, dass das Recht auf eine ethische und intellektuelle Erziehung mehr bedeutet als nur das Recht, sich Wissen anzueignen, zuzuhören und zu gehorchen: es ist vielmehr ein Recht, gewisse wertvolle Instrumente für intelligentes Handeln und Denken auszubilden (siehe – z.B. Imaginationsfähigkeit …).
Dafür wird eine spezifische soziale Umgebung benötigt, nicht aber Unterwürfigkeit gegenüber einem festen System. Erziehung in der Schule und in der Familie muss auf die volle Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit ausgerichtet sein. Sie sollte imstande sein, Individuen hervorzubringen, die sowohl intellektuell als auch moralisch autonom sind und solche Autonomie bei anderen respektieren, indem sie das Gesetz der Gegenseitigkeit anwenden, so wie es auf sie selbst angewandt wird.
Diese Auffassung vom Menschen und der menschlichen Entwicklung beinhaltet ein erzieherisches Postulat: Es kann nur dann möglich sein, ethisch denkende Menschen zu erziehen, wenn diesen in ihrem intellektuellen Lernen erlaubt ist, Wahrheiten selbst zu entdecken.
Als eine Besonderheit an der Erziehungskonzeption Maria Montessoris können wir festhalten, dass es ein erklärtes Ziel dieser großen Pädagogin war (ist), menschlichen Wesen bei der gewaltigen Aufgabe des inneren Aufbaus zu helfen, der erforderlich ist, um aus der Kindheit ins Erwachsenenalter hineinzuwachsen. Nach der pädagogischen Theorie Maria Montessoris ist die erste Integration des Menschen in seine Welt in den ersten sechs Lebensjahren von besonderer Bedeutung für die Entwicklung des Menschen. Wir helfen den Kindern bei ihrer Entwicklung durch die Übungen des täglichen Lebens und durch die Übungen zur Sinnesschulung. Wir helfen den Kindern, dass sie Ordnungen finden können, dass sie in Bewegung lernen und ihre eigenen Fortschritte machen können.
Ab dem sechsten Lebensjahr aber beginnt bei vielen Kindern ein neuer und ebenso bedeutender Entwicklungsabschnitt in ihrem Leben. Während sie nach der Vorstellung Maria Montessoris vor dem 6. Lebensjahr damit beschäftigt waren, sich in ihre Umwelt zu integrieren, beginnen sie nun ihre „Umwelt in sich zu integrieren“. Tatsächlich beginnen Kinder in diesem Alter die für ihre geistige Entwicklung wichtigen philosophischen Fragen zu stellen: „Wer hat die Welt gemacht?“ „Woher kommt die Welt?“ „Woher komme ich?“
In Konsequenz einer Konzeption der Kosmischen Erziehung kann es nun nicht darum gehen, den Kindern abgeschlossene und ihr Denken und Fragen abschließende Antworten zu geben. Vielmehr geht es darum, die Imaginationsfähigkeit der Kinder anzuregen, so dass sie ihre eigenen Vorstellungen ihre Fragen betreffend entwickeln können. Maria Montessori gibt uns einen wesentlichen Hinweis, wie wir dem Interesse der Kinder am Universum und am Universellen, ihrem Interesse am Großen und Umfassenden begegnen können: Den Kindern die Details geben, aus denen sie das Ganze erschließen können.
„Kinder dieser Altersstufe sind fasziniert, weil diese Geschichte sie persönlich betrifft. Sie beginnen, sich ihrer eigenen Situation als sich entwickelnde menschliche Wesen bewusst zu werden und sie werden auf natürlich Weise des Unterschieds zwischen dem Menschen und anderen Lebewesen gewahr. Zwischen beiden und der Umwelt besteht eine Wechselbeziehung. Diese Wechselbeziehung wird deutlich in dem, was Maria Montessori als kosmische Aufgabe bezeichnet – den Dienst, den die Individuen, den die Individuen jeder Spezies ihrer Umwelt leisten müssen, von der ihre Existenz abhängt, um sie in der Weise zu erhalten, dass sie auch ihren Nachkommen, Generation nach Generation, Unterhalt bietet.“ [29]
Die kosmische Erziehung bietet die Art von Hilfe, die die neuen, auf dieser ersten Integrationsebene konsolidierten Potentialitäten aktiviert. Der Weg für diese Aktivierung ist durch indirekte Vorbereitung auf einer früheren Stufe geebnet worden. Alle Erfahrungen, die dem Kind früher in der vorbereiteten Umwelt geboten wurden, waren Grunderfahrungen, die entweder für die Ausbildung späterer Funktionen oder als Schlüssel gebraucht wurden, durch die es seine Welt erkunden oder sich in ihr orientieren konnte. Wenn es diese zweite Phase der Reife erreicht, sollte ihm eine umfassendere Sicht der Welt geboten werden, d. h. eine Sicht des ganzen Universums. [30]
Es ist nicht leicht für Lehrer, die Details auszuwählen, aus denen für Kinder das Ganze erschließbar wird. Martin Wagenschein gibt uns hier sicher einige Hilfen, wenn wir sein Prinzip des Exemplarischen beachten, das wunderbar zum Konzept einer kosmischen Erziehung passt.
Zusammenfassung
Maria Montessori hat ein in sich geschlossenes didaktisches System geschaffen. In dessen Mittelpunkt steht zwar die Selbstbestimmung des Kindes, doch in einem vom Pädagogen vorgegebenen Rahmen und einer vorgegebenen Struktur.
Hervorzuheben ist die Qualität der Entwicklungsmaterialien zur Selbstbildung der Kinder. Diese Materialien sind sicher einzigartig in ihrer Materialisierung eines abstrakten Inhaltes und in ihrer Kindgemäßheit. Im Mittelpunkt der Pädagogik steht ausschließlich die Entwicklung des Kindes. In diesem Sinne ist es eine Pädagogik vom Kinde aus für das Kind.
Vergleichbar mit der Jenaplan-Pädagogik und der Daltonplan-Pädagogik ist die Gruppenstruktur in einer Montessori-Einrichtung auch altersheterogen. In der Montessori-Pädagogik werden altersgemischte Gruppen bevorzugt: 6-9jährige Kinder, 9-12jährige Kinder, 12-15jährige Jugendliche usw. Ich habe auch absichtlich den Begriff Montessori-Schule vermieden. Nach Möglichkeit ist die Montessori-Pädagogik in einem „Kinderhaus“ zu finden, in dem es auch keine Trennung zwischen Kindergarten und Schule gibt. Einige dieser Montessori-Einrichtungen beginnen beim dreijährigen Kind und bieten ebenso die Möglichkeit des Abiturs.
Wir alle bisher vorgestellten reformpädagogischen Richtungen ist auch die Montessori-Pädagogik eine leistungsorientierte Pädagogik. Sie bietet aber noch mehr als diese bloße Leistungsorientierung. Sie bietet in der Dimension der Selbstbestimmung eine Qualität, die eine lehrerorientiert ausgerichtete Schule nicht bietet. Und sie bietet aufgrund der Kindorientiertheit und der Arbeit mit den Entwicklungsmaterialien die klarste Möglichkeit auf die Individualität des Kindes im Lernprozess einzugehen. Ich scheue mich in diesem Zusammenhang nicht zu behaupten, dass eine integrative Klasse, in der gemeinsames Lernen von behinderten und nicht behinderten Kinder stattfindet, ohne Montessori-Pädagogik für mich undenkbar ist. Montessori-Pädagogik ist in diesem Sinne integrative Pädagogik.
Wenn wir in der Geschichte der österreichischen Pädagogik zurückblättern, finden wir immer wieder reformpädagogische Spuren, reformpädagogische Ansätze und die bemerkenswerte Geschichte der Montessori-Pädagogik in Österreich. In den späten zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts hat der Stadtschulrat für Wien eine Montessori-Schule gebaut. Doch noch 1926 schreibt die spätere Leiterin der Wiener Montessori-Schule noch: „Der didaktische Aufbau der Montessori-Erziehung ist heute ziemlich bekannt, doch hier kaum von Interesse.“ [31] Heutzutage ist das Interesse groß, und es bleibt noch immer die Hoffnung, dass es – wie damals – wieder eine Montessori-Schule oder auch andere reformpädagogische Schulen im öffentlichen Schulsystem gibt.
[1] Montessori, Mario: Erziehung zum Menschen. Montessori-Pädagogik heute. Frankfurt am Main 1992. S. 69f
[2] Vgl. Holtstiege, Hildegard, Maria Montessori und die reformpädagogische Bewegung, S. 35
[3] Holtstiege, Hildegard, Modell Montessori, Freiburg 1968, S 174
[4] Montessori, Maria, Schule des Kindes, Freiburg 1976, S. 70
[5] Maria, Das Kind in der Familie, Stuttgart 1954, (Wien 1923), S. 59
[6] Vgl. Maria Montessori, in: Hildegard Holtstiege, Modell Montessori, 4.Aufl., Freiburg 1977, S. 41
[7] Maria Montessori, Das kreative Kind. Freiburg 1972, S. 23
[8] Maria Montessori; Das kreative Kind, S.21
[9] Maria Montessori, Grundlagen meiner Pädagogik, München 1934
[10] Maria Montessori, Das kreative Kind, Freiburg 1972, S.260
[11] Paul Scheid, Das Frankfurter Modell, in: Beiträge zur Montessori-Pädagogik 1977, Stuttgart 1977, S. 10f.
[12] Bekannt aus der Geschichte des Wiener Montessori-Kinderhauses (1922-38)
[13] Vgl. Hermann Röhrs, Schulen der Reformpädagogik heute, Vorwort
[14] Holtstiege, Hildegard: Maria Montessoris neue Pädagogik. Prinzip Freiheit – freie Arbeit. Freiburg 1987. S. 15
[15] Montessori, Maria: Grundlagen meiner Pädagogik. Heidelberg 1968. S. 152
[16] Vgl. Holtstiege, Hildegard: Maria Montessoris neue Pädagogik. S. 15
[17] Montessori, Maria: Über die Bildung des Menschen. Freiburg 1966. S. 133
[18] Montessori, Maria: Frieden und Erziehung. Freiburg 1973. S. 84
[19] Montessori, Maria: Kinder sind anders. Stuttgart 1978. S. 23
[20] Montessori, Maria: Grundlagen meiner Pädagogik. S. 153
[21] Montessori, Maria, Über die Bindung des Menschen, Freiburg 1966, S.21
[22] Montessori, Maria, Grundlagen meiner Pädagogik, Heidelberg 1968 (München 1934), S.13
[23] Montessori, Maria, Die Entdeckung des Kindes, S.167
[24] Montessori, Maria: Die Selbsterziehung des Kindes. In: Franz Hilker, Die Lebensschule, Heft 12, Berlin 1923, S. 9
[25] Vgl. Montessori, Maria, Von der Kindheit zur Jugend, Freiburg 1966, S. 12 ff.
[26] Vgl. Montessori, Maria, Von der Kindheit zur Jugend, S. 52 ff.
[27] Montessori, Maria, To Educate the Human Potential, Adyar, Indien, Kalakshetra 1948, S. 14-15
[28] Vgl. Piaget, Jean, Das Recht auf Erziehung …
[29] Montessori, Mario, Erziehung zum Menschen, Frankfurt a. M., 1987, S. 140
[30] Montessori, Mario, Erziehung zum Menschen, S. 138
[31] Roubiczek, Lili. E., Die Grundsätze der Montessori-Erziehung.
In: Zeitschrift für psychoanalytische Pädagogik, Oktober 1926, S. 7