„Soll Erziehung als eine Art Konfektionsarbeit verstanden werden, die der Verfertigung von Kindern (das heißt ihrer Herstellung und Abrichtung) dient, oder heißt Erziehung Freisetzung des Kindes zu seiner eigenen Selbstgestaltung?“ (Böhm, Winfried, Was ist „aktuell“ an Montessori? In: Fuchs, Brigitta & Harth-Peter, Waltraud (Hrsg.), Montessori-Pädagogik und die Erziehungsprobleme der Gegenwart, Würzburg 1990, S. 24)
Harald Eichelberger
Für eine „bessere Schule“ … Ideen der Reformpädagogik
„Soll Erziehung als eine Art Konfektionsarbeit verstanden werden, die der Verfertigung von Kindern (das heißt ihrer Herstellung und Abrichtung) dient, oder heißt Erziehung Freisetzung des Kindes zu seiner eigenen Selbstgestaltung?“[1]
Ich möchte für dieses Vorwort gerne ein durchaus bekanntes Zitat eines großen deutschen Schulpädagogen voraus stellen: „Wer sich in der Reformpädagogik einigermaßen auskennt, stellt fest, dass der größte Teil heutiger Initiativen für innere Schul- und Unterrichtsformen direkt oder indirekt auf Ideen der Reformpädagogik des ersten Jahrhundertdrittels zurückgeht oder als Wiederentdeckung solcher Ideen anzusprechen ist.“[2] Nicht eine reformpädagogische Richtung im solitären Sinn ist angesprochen, sondern die Reformpädagogik in ihrer Gesamtheit, in ihrer Kraft zur ständigen Erneuerung und Reform der Schule. In diesem Sinne ist diese heute schon als historisch zu nennende Epoche der Pädagogik noch immer eine „Reformpädagogik“. Diesem letztgenannten Anspruch wird unter allen reformpädagogischen Richtungen im besonderen Maße der „Jenaplan“ gerecht.
Das Studium der heute weltweit verbreiteten fünf erfolgreichen Modelle der Reformpädagogik – Montessori-Pädagogik, Freinet-Pädagogik, Jenaplan-Pädagogik, Daltonplan-Pädagogik und Waldorf-Pädagogik[3] – sollte es uns ermöglichen, dem pädagogischen Ziel eines auf Selbstständigkeit und Selbstbestimmung basierenden Bildungsprozesses in den Schulen näher zu kommen, ohne die Notwendigkeit einer didaktisch-methodischen Grundlage für schulisches Lernen und den gesellschaftlichen Rahmen der Schule aus den Augen zu verlieren.
Mit all den zu diskutierenden Konzepten sind pädagogische Prinzipien wie Selbstständigkeit, Selbstbildung, Eigenverantwortung, Selbsttätigkeit, eigenständiges und autonomes Lernen, entdeckendes Lernen, Bildung der Imaginationsfähigkeit, sowie soziales Lernen und Integration verbunden. Zentrales Anliegen ist es, dem heranwachsenden Menschen in seiner Entwicklung zur eigenständigen Persönlichkeit und zur Entfaltung seiner Individualität zu helfen.
Weitere konstituierende und beschreibende Merkmale reformpädagogischer Bildungskonzepte finden wir, ohne schon Anspruch auf Vollständigkeit erheben zu wollen, in der Gestaltung einer anregenden Lernlandschaft, im fächerübergreifenden Unterricht, in weit reichenden Mitbestimmungsmöglichkeiten des Kindes, im Angebot so genannter Entwicklungsmaterialien, in einer persönlichkeitsbezogenen Leistungsbewertung und Leistungsbeurteilung und in einer prinzipiellen Betonung der Eigenaktivität.
Montessori-Pädagogik, Freinet-Pädagogik, der Jenaplan nach Peter Petersen, der Daltonplan nach Helen Parkhurst oder der Epochenunterricht der Waldorfschulen bieten klare methodisch-didaktische Konzepte und sind dabei doch flexibel: Je nach dem entwickelten Schulprofil bieten sie die Grundlage für die pädagogische Arbeit an der Schule oder sie bilden die Basis für die Entwicklung eines adaptierten oder neu erstellten Erziehungs- und Unterrichtskonzeptes. In beiden Fällen setzt die Integration eines dieser Modelle ein vorangehendes intensives Studium desselben voraus und erfordert die permanente Reflexion, ob die Intentionen der Schule auch eine Verwirklichung durch das gewählte pädagogische Modell erfahren können, ob also der gewählte Weg auch zum Ziel führt.
Der Einwand, dass diese Konzepte nicht neu sind und dass es sich bei deren Einführung höchstens um eine Renaissance reformpädagogischer Richtungen handelt, gilt dann nicht, wenn Reformpädagogik als Grundlage einer aktuellen Schulentwicklung aufgefasst wird. Um dem Ziel einer nach den Prinzipien der Selbstbestimmung und Selbstständigkeit gestalteten Schule näher zu kommen, bedarf es nicht einer Schulreform – im Sinne der Wiederherstellung eines Zustandes nach altem (hierarchisch gesteuerten) Muster – oder einer Schulerneuerung von oben herab; wir brauchen vielmehr Rahmenbedingungen für eine Schulentwicklung, die den pädagogischen Prinzipien der reformpädagogischen Konzepte konsequent entspricht.
Schulentwicklung – Schulverbesserung
Entwicklung der Schule beinhaltet grundsätzlich die Beteiligung und volle Einbeziehung der direkt Betroffenen, der Lehrerinnen und Lehrer, der Eltern und auch der Schüler. Sie sind es, die ihre eigene Schule entwickeln können und im Sinne einer Selbstbestimmung auch müssen. Erklärt man sich mit dieser Voraussetzung einverstanden, wird klar, dass sich Schulentwicklung nicht nur auf die Gestaltung einer einzelnen Schule beziehen wird, sondern eine strukturelle Veränderung des gesamten Schul- und Bildungswesens des Staates erfordert.
Die hier diskutierten reformpädagogischen Konzepte sind grundsätzlich Entwicklungskonzepte. Ihre pädagogischen Intentionen beziehen sich auf die optimale Entwicklung des Kindes. Doch ihre Grundsätze oder Prinzipien sind als reformleitende Ideen für Schulentwicklung prinzipiell anwendbar und auch in Teilen ursprünglich als solche konzipiert und gedacht. Ich gehe in der Folge von der These aus, dass die pädagogischen Grundsätze der reformpädagogischen Konzepte als Leitlinien für eine aktuelle Schulentwicklung dienen müssen, wenn Bedingungen für eine optimale Entwicklung des Kindes im schulischen Rahmen – und damit eine kindorientierte Pädagogik – hergestellt werden sollen. Das würde bedeuten, dass die Schulentwicklung der Zukunft vornehmlich nach pädagogischen Kriterien vorgenommen werden wird, und wir finden entwicklungsleitende Ideen in allen aktuellen reformpädagogischen Konzepten.
Allen voran ist in diesem Zusammenhang Peter Petersens Jenaplan und sein ausdrücklich als „Ausgangsform“ bezeichnetes pädagogisches Konzept zu nennen. Wir dürfen diesen Begriff durchaus wörtlich nehmen und von etwas ausgehen, um die uns entsprechende Form der Schule und der „pädagogischen Situation“ in dieser zu entwickeln. Ausgehen werden wir von den vier Bildungsgrundformen, der Feier, dem Gespräch, der Arbeit und dem Spiel. Ausgehen werden wir weiters von einer Rhythmisierung dieser vier Formen im schulischen Tagesablauf der Kinder statt von der Unmöglichkeit des Lernens nach einem „Fetzenstundenplan“, von einer altersheterogenen Gruppierung der Kinder in verschiedenen Gruppen statt Jahrgangsklassen, von einem Lernen und Leben in einer Schulwohnstube und von einem grundsätzlichen Bewusstsein, dass wir keine Zensuren mehr vergeben, aber die Entwicklung des Kindes beobachten und beschreiben. Gemeint ist die Entwicklung des Kindes in der von uns vorbereiteten „Pädagogischen Situation“, die für das Lernen des Kindes nicht nur den Lebensbezug bereithält, sondern die „innere Begegnung“ des Kindes mit dem zu Lernenden anstrebt. Davon ausgehend wird jede Jenaplanschule ihre eigenständige Entwicklung nehmen können. Ausgehend von der Ausgangsform wird sie den Lebens- und Lernbedürfnissen der Menschen, die sie besuchen und die sie entwickeln, entsprechen, und sie kann – wie europaweit gezeigt wird – damit auch den staatlichen und europäischen Anforderungen sowie dem Lehrplan entsprechen.
Im Vergleich zur Pädagogik Peter Petersens ist Maria Montessoris Konzept primär auf die Entwicklung des Kindes bezogen und expressis verbis ein so genanntes Entwicklungskonzept. Als didaktisch weit gehend durchkonzipiertes System und in den Grundsätzen der Montessori-Pädagogik bietet es eindeutige Anregungen zur Gestaltung einer pädagogischen Institution: in der Gestaltung der „Vorbereiteten Umgebung“, der Organisation nach altersheterogenen Gruppen, der Idee des Kinderhauses – statt der Trennung von pädagogisch eigentlich zusammengehörigen Institutionen (wie Kindergarten und Schule). Sie ist intentional eine Pädagogik der Selbstbestimmung (und auch der Ich-Findung). Eine Pädagogik der Selbstbestimmung[4] wird in ihrer Realisierung auch die Selbstbestimmung aller Personen einer pädagogischen Institution anstreben, will sie ihre Glaubwürdigkeit erhalten. In Konsequenz dieses Gedankens wird nicht nur die Integration der Montessori-Pädagogik in ein bestehendes Schulsystem angestrebt, sondern die Montessori-Pädagogik als für eine Schulentwicklung geeignetes System angesehen und selbst als entwicklungsfähige pädagogische Konzeption betrachtet. Dabei stellt sich die Frage, ob die Montessori-Pädagogik auch eine Ausgangsform sein oder als solche aufgefasst werden kann. Die Diskussion, die diese Frage zu beantworten versucht, kann sowohl für die Entwicklung der Schule als auch für die Entwicklung der Reformpädagogik sehr fruchtbar sein.
Helen Parkhursts Konzept des Daltonplans ist aus der Entwicklung eines neuen Schulkonzeptes entstanden – das Prinzip der Entwicklung ist dieser Pädagogik immanent. Helen Parkhurst betont, dass sie den Daltonplan nicht als System bezeichnet haben möchte, sondern vielmehr als „Way of Life“. Und dieser orientiert sich an Prinzipien, die der hier angeregten Schulentwicklung eine eindeutige Orientierung und Richtung verleihen: das Prinzip der Freiheit, das Prinzip der Kooperation und – später hinzugefügt – das Prinzip vom Verhältnis des Aufwandes zur Erreichung des Zieles oder Budgeting Time. An individuellen Lernaufgaben soll der Schüler in selbstständiger Arbeit, – alleine oder in Zusammenarbeit – lernen und wachsen und für seinen Entwicklungsprozess die Verantwortung tragen können. Die pädagogischen Prinzipien des Daltonplanes sind Grundprinzipien für die Entwicklung einer Schule bzw. auch für die Entwicklung des Schul- und Bildungswesens. Schulentwicklung nach diesen Prinzipien schließt die Prinzipien der Freiheit, der Kooperation und des Verhältnisses des Aufwandes zum Ziel auch für die Arbeit der Lehrerinnen und Lehrer, der Eltern und der Schüler ein. Das würde auch die Freiheit der Schulgestaltung, der Wahl eines pädagogischen Konzeptes, die Zusammenarbeit mit anderen Institutionen und alle weiteren Möglichkeiten einschließen. Weiters ist der Daltonplan auch selbst frei für Veränderung, wie die Einführung bzw. die Entwicklung des Subdaltonplanes für die Grundschule in Holland beweist.
Die Freinet-Pädagogik war und ist nicht auf die schulische Arbeit alleine beschränkt. Sie war und ist eine Pädagogik mit dem Anspruch der Veränderung der Gesellschaft. Nicht nur die Gestaltung der Schule ist die Aufgabe der Lehrer, Eltern und Kinder. Gerade mit der Aufgabe der Schulgestaltung und Schulentwicklung wollte Célestin Freinet in seinen Kindern das Bewusstsein schaffen, dass auch die Gesellschaft nach den Bedürfnissen des Kindes bzw. der Betroffenen veränderbar ist. Er hat den Kindern das Wort gegeben, damit sie lernen, sich zu artikulieren, damit sie lernen können, in einer Demokratie zu leben – verantwortlich für sich selbst und für andere Menschen und doch selbst bestimmend innerhalb eines demokratisch strukturierten sozialen Gefüges zu sein. Wo sonst sollen Kinder Demokratie lernen, wenn nicht in der Schule? Und wir dürfen und müssen nicht nur den Kindern das Wort zur Gestaltung und Entwicklung ihrer Schule geben, sondern auch den Lehrerinnen und Lehrern und den Eltern.
Das Integrative am Jenaplan
Der Jenaplan ist (war) ein Versuch, „aus der Schule als Ganzem etwas Neues zu machen, d h. das ganze Schulleben von Grund auf radikal zu ändern. Und dann gelte es, dort hinein den Unterricht zu setzen und sorgfältig zu prüfen und zu erproben, wie sich dieser ändern werde, wenn man gezwungen sei, immer jenes neue Schulleben zu erhalten, die neue Schulgesinnung zu bewahren, also kurz gesagt: Den Unterricht der Erziehung zu unterwerfen, zuerst Erzieher, dann erst Lehrer sein.“[5] Die Betonung der Gemeinschaft, der Erziehung zur Gemeinschaftsfähigkeit durch die Erziehung in der Gemeinschaft verleiht dem Jenaplan eine besondere Stellung unter den oben zitierten reformpädagogischen Richtungen. Gleichzeitig zeigt dieses Element des Jenaplans seine erzieherische und bildnerische Aktualität: die sinnvolle Integration des Einzelnen in die Gemeinschaft in einer „Schule für alle“. Darüber hinaus ist der Jenaplan auch das aktuelle reformpädagogische Konzept, das die Integration der Prinzipien einer anderen reformpädagogischen Richtung nicht nur ermöglicht, sondern die Realisierung derselben besonders zur Geltung bringen kann. In diesem Sinn ist der Jenaplan Grundlage für die „reformpädagogische“ Schule, in der die Prinzipien der reformpädagogischen Richtungen zu einem neuen aktuellen und modernen Schulkonzept[6] vereinigt sind, und er ist auch Grundlage für die „reformpädagogische“ Schule, die als selbst lernendes System die Kraft zu ständigen notwendigen Erneuerung für die Ansprüche ihrer Schüler per se in sich trägt.
[1] Böhm, Winfried, Was ist „aktuell“ an Montessori? In: Fuchs, Brigitta & Harth-Peter, Waltraud (Hrsg.), Montessori-Pädagogik und die Erziehungsprobleme der Gegenwart, Würzburg 1990, S. 24
[2] Klafki, Wolfgang, Aufgaben der Grundschule und der Grundschulreform. In: Erziehungswissenschaft, Erziehungspraxis, H.1/1986, S. 4
[3] Die Waldorf-Pädagogik nimmt trotz ihrer weltweiten Verbreitung eine Sonderstellung ein. Sie ist in einem nur geringen Ausmaß für die Weiterentwicklung des öffentlichen Schulsystems wirksam geworden und durch eine starke Bindung an die Anthroposophie gekennzeichnet.
[4] Vgl. auch: Eichelberger, H., Handbuch zur Montessori-Didaktik, Innsbruck 1997
[5] Petersen, Peter, Zur Entstehungsgeschichte des Jenaplans. In: Westermanns Pädagogische Beiträge 9/1952, S. 449-452.
[6] Vergleiche auch: Eichelberger, Harald & Wilhelm, Marianne, der jenaplan heute. Eine Pädagogik für die Schule von morgen. Innsbruck 2000