Im Mittelpunkt der Pädagogik Maria Montessoris steht jedoch das Phänomen der Polarisation der Aufmerksamkeit – hier im Original:
„… beobachtete ich ein etwa dreijähriges Mädchen, das tief versunken war in die Beschäftigung mit einem Einsatzzylinderblock, aus dem es die kleinen Holzzylinder herauszog und wieder an ihre Stelle steckte. Der Ausdruck des kleinen Mädchens zeugte von so intensiver Aufmerksamkeit, daß er für mich eine außerordentliche Offenbarung war. … Und jedesmal, wenn eine solche Polarisation der Aufmerksamkeit stattfand, begann sich das Kind vollständig zu verändern. Es wurde ruhiger, fast intelligenter und mitteilsamer. Es offenbarte außergewöhnliche innere Qualitäten, die an die höchsten Bewußtseinsphänomene erinnern, wie die der Bekehrung.“( Montessori, Maria, Schule des Kindes, Freiburg 1976 (früher Montessori-Erziehung für Schulkinder, Stuttgart 1926.)
Mit dieser Entdeckung hatte Maria Montessori endgültig einen Zugang zum kindlichen Selbstbildungsprozess gefunden. Die weitere Frage richtete sich auf die systematisch herstellbaren Bedingungen für das Auftreten bzw. Eintreten des Phänomens – die Frage nach der vorbereiteten Umgebung.
Harald Eichelberger
Die Montessori-Pädagogik als Konzept der Selbstbildung
Die Erziehung zur Selbständigkeit durch Selbsttätigkeit in einem Konzept der Selbstbildung. Es geht darum, Wahrheiten immer wieder selbst entdecken zu dürfen!
Maria Montessori – der Zugang zum Selbstbildungsprozess
Im Zentrum ihres frühen Forschungsinteresses stand das wissenschaftliche Studium der Aufmerksamkeit, gefasst unter der Bezeichnung „psychische Re-aktionen“ sowie die experimentelle Untersuchung der Anregungsbedingungen. Für diesen Untersuchungsansatz griff Maria Montessori auf die einschlägigen Forschungsarbeiten von Jean Gaspard Itard und Eduard Séguin zurück. Maria Montessori bezog einen weiteren Faktor mit ein: das Studium der Entwicklung des Kindes, und zwar nicht als Voraussetzung erster kinderpsychologischer Erkenntnisse sondern als Beobachtung kindlicher Selbstäußerungen unter Gewährung von Entwicklungsfreiheit in konkret gestalteten pädagogisch-didaktischen Situationen.[1]
Langwierige und in der Stille betriebene Versuche, zu denen sie von Jean Gaspard Itard und Eduard Séguin angeregt wurde, bezeichnet Montessori als ihren ersten Beitrag zu Erziehung. Die eigentliche Experimentalphase war die Zeit von 1898 bis 1900, in der sie die Scuola Ortofrenica leitete.
Die Gestaltung des römischen Kinderhauses in San Lorenzo stellte bereits die Anwendung dieses Beitrages dar und brachte eine Entdeckung, die zum Kristallisationspunkt aller weiteren experimentalpsychologischen Forschung wurde – die Polarisation der Aufmerksamkeit.
Maria Montessori nannte ihre experimentelle Arbeit mit drei- bis sechsjährigen Kindern „einen praktischen Beitrag zur Erforschung der Pflege, deren die Kinderseele bedarf.“[2]
Auf welchem Denk- und Arbeitsansatz diese Arbeit Maria Montessoris beruhte, beschreibt sie 1948 in ihrem Werk „Selbsttätige Erziehung im frühen Kindesalter“: „Und so fand ich allmählich meinen Weg zu neuen Zielen, die sich auf dem Gebiete der Psychiatrie zeigten. Ich begriff, was andere nicht begriffen, nämlich, daß die wissenschaftliche Erziehung nicht auf dem Studium und den Meßergebnissen der zu erziehenden Menschen beruht, sondern eine fortlaufende Behandlung voraussetzt, die ihn verändern kann.“[3]
Zeittafel zu Leben und Werk
1870 Maria Montessori wird am 31. August im märkischen Städtchen Ciaravalle geboren.
1876 – 1890 Besuch der Volksschule und der höheren Schulen in Rom
1890 Sie inskribiert Mathematik und Naturwissenschaften an der Universität Rom
1892 Abschlussprüfung des medizinischen Vorkurses, hartnäckiger Kampf um die Möglichkeit, als erste Frau Italiens Medizin zu studieren
1895 Assistentin am Krankenhaus
1896 Dissertation über ein psychiatrisches Thema
Vertritt als eine der Delegierten Italien auf dem internationalen Frauenkongreß in Berlin. Nach ihrer Rückkehr befasst sie sich mit der Literatur über behinderte Kinder. Sie ist beeindruckt von den Werken der französischen Ärzte Itard (1774 – 1838) und Séguin (1812 – 1880). Sie kommt zur Überzeugung, dass diesen Kindern durch Erziehung mehr geholfen werden kann als durch bloße medizinische Betreuung.
1897/98 Besuch von pädagogischen Vorlesungen
1898 Geburt ihres Sohnes Mario Montessori
1902 Sie übersetzt sämtliche Werke Séguins ins Italienische und entdeckt dabei, dass Séguin schon 1866 forderte, seine Methode auch auf die Erziehung gesunder Kinder auszudehnen.
1903 – 1908 Vorlesungen am pädagogischen Institut der Universität Rom über Geschichte der Anthropologie und ihre Anwendung auf die Pädagogik. Aus der Vorlesung entsteht später das Werk „Antropologia Pedagogica“.
1907 Eröffnung der ersten „Casa dei bambini“ für gesunde Kinder in San Lorenzo, einer von Ingenieur Talami gebauten Armensiedlung in Rom. Weiterentwicklung des Materials.
1908 Eröffnung der „Casa dei bambini“ in Mailand unter der Leitung von Anna Maccheroni durch die „Società Umanitaria“, einer von Sozialisten gegründeten philantropischen Gesellschaft.
1909 1. internationaler Ausbildungskurs für ungefähr 100 Lehrer. Veröffentlichung des ersten Buchs: „Il metodo della pedagogia scientifica applicato all’educazione infantile nelle case dei bambini“. Teresa Bontempi führt die Montessori-Methode offiziell im Tessin ein.
1911 Erste Montessori-Schulen in den USA
1912 Graham Bell, in seiner Jugend Taubstummenlehrer und mit einer taubstummen Frau verheiratet, errichtet in seinem Haus eine Montessori-Klasse. In den USA erscheint „The Montessori-Method“ – Die Auflage von 5000 Stück ist innerhalb von 4 Tagen ausverkauft. Tod der Mutter Renilde. Sohn Mario zieht zu Maria Montessori.
2. internationaler Ausbildungskurs in Rom
1913 3. internationaler Ausbildungskurs in Rom, stark unterstützt durch das amerikanische Montessori-Komitee. Sie trifft John Dewey, Thomas Edison, Helen Keller. Ihr Material wird in England durch die Firma Philip & Tracey hergestellt.
1914 4. internationaler Ausbildungskurs in Castel Sant’Angelo mit Teilnehmerinnen aus 15 Ländern. „Dr. Montessori’s own Hand-book“ erscheint in New York.
1915 Zweite Amerikareise. Einrichtung einer Montessori-Klasse an der „Panama Pacific Exposition“unter ihrer Schülerin Helen Parkhurst. 5. internationaler Ausbildungskurs in San Diego. Tod des Vaters.
1916 Maria Montessori übersiedelt nach Barcelona. 6. internationaler Ausbildungskurs. Erscheinen von „L’Autoeducazione nelle scuole elementari“.
1917 Erster Besuch Hollands. Zusammentreffen mit dem Biologen Hugo de Vries. Maria Montessori übernimmt von ihm den Begriff der „Sensitiven Perioden“. Gründung der holländischen Montessori-Gesellschaft. Dritter Besuch der USA.
1919 7. intern. Ausbildungskurs in London mit 250 Teilnehmern
1922 Gründung des berühmten Montessori-Hauses für Kinder in Wien durch Lilli E. Peller-Roubiczek. Zum Wiener Montessori-Kreis gehörten auch Emma Plank-Spira, Anna Freud u. a.
1923 Im März Besuch der Montessori-Schule in Wien, wo das Buch „Das Kind in der Familie“ erscheint.
1924 2. Besuch in Wien
1929 Gründung der „Association Montessori Internationale“ mit Sitz in Berlin. Maria Montessori wird Präsidentin, ihr Sohn Sekretär. Förderer sind Sigmund Freud, Rabindranat Tagore, Guglielmo Marconi, Jan Masaryk, Jean Piaget, Giovanni Gentile.
1940 Nach Eintritt Italiens in den Krieg werden Maria Montessori und ihr Sohn getrennt interniert. Am 31. August, dem 70. Geburtstag Maria Montessoris, führt die britische Regierung die beiden wieder zusammen. In den folgenden Jahren bilden sie gemeinsam über 1000 indische Lehrer aus. 28. intern. Ausbildungskurs in Adyar. Gründungeiner indischen Montessori-Gesellschaft. Treffen mit Gandhi, Nehru, Radhakrischnan. Sie interessiert sich immer mehr für das Säuglingsalter.
1949 Das Buch „The absorbent Mind“ erscheint in Madras.
1952 Pläne für Reise nach Ghana. Maria Montessori stirbt am 6.Mai in Noordwijk aan Zee (Holland).
Zur Kritik der Schule
Veränderungen in der Pädagogik haben immer mannigfaltige Ursachen. Ich verweise in diesem Zusammenhang auf mein einleitendes Statement der Suche nach einer humaneren Schule. Mit Sicherheit hat Maria Montessori in unserem Jahrhundert einen großen Beitrag geliefert, die Schule humaner zu machen …
„Schränkte … das Lernen sich auf ein bloßes Empfangen ein, so wäre die Wirkung nicht viel besser, als wenn wir Sätze auf das Wasser schrieben; denn nicht das Empfangen, sondern die Selbsttätigkeit des Ergreifens und die Kraft, sie wieder zu gebrauchen, macht erst eine Er-kenntnis zu unserem Eigentum.“[4]
In ihrem 1916 erschienen Buch „L’Autoeducazione …“ wirft Maria Montessori einen kritischen Blick auf die herkömmliche Erziehungspraxis:
Während sich der (herkömmliche) Lehrer herkömmlicher Schüler als „Schöpfer des kindlichen Geistes“ versteht, bedeutet Bildung im Sinne Maria Montessoris „Selbstschöpfung“.
In der Auseinandersetzung mit J.F. Herbart verweist sie an folgender Stelle auf die Problematik des „Bewirkens“ des Interesses und der Aufmerksamkeit: „Sich künstlich interessant machen, das heißt sich interessant machen für jemand, der kein Interesse an uns hat, das ist eine sehr schwierige Aufgabe. Und stunden- und jahrelang durch Interesse nicht eine, sondern eine Vielzahl von Personen an uns binden, die nichts mit uns gemein haben, nicht einmal das Alter: das ist eine übermenschliche Aufgabe.“ (…) „Das (Begreifen und Lernen) ist eine im Innern sich vollziehende Arbeit, die er (der Lehrer) nicht gebieten kann.“[5]
Ein weiter Kritikpunkt ist für Maria Montessori das „dominierende Ökonomieprinzip“ in den Schulen – möglichst viel in möglichst kurzer Zeit – der Lehrplan soll doch erfüllt werden …
Im Mittelpunkt der Pädagogik Maria Montessoris steht jedoch das Phänomen der Polarisation der Aufmerksamkeit[6] – hier im Original:
„… beobachtete ich ein etwa dreijähriges Mädchen, das tief versunken war in die Beschäftigung mit einem Einsatzzylinderblock, aus dem es die kleinen Holzzylinder herauszog und wieder an ihre Stelle steckte. Der Ausdruck des kleinen Mädchens zeugte von so intensiver Aufmerksamkeit, daß er für mich eine außerordentliche Offenbarung war. … Und jedesmal, wenn eine solche Polarisation der Aufmerksamkeit stattfand, begann sich das Kind vollständig zu verändern. Es wurde ruhiger, fast intelligenter und mitteilsamer. Es offenbarte außergewöhnliche innere Qualitäten, die an die höchsten Bewußtseinsphänomene erinnern, wie die der Bekehrung.“[7]
Mit dieser Entdeckung hatte Maria Montessori endgültig einen Zugang zum kindlichen Selbstbildungsprozess gefunden. Die weitere Frage richtete sich auf die systematisch herstellbaren Bedingungen für das Auftreten bzw. Eintreten des Phänomens – die Frage nach der vorbereiteten Umgebung.
Zur vorbereiteten Umgebung
Nicht nur ein Bild der pädagogischen Struktur, sondern deren unabdingbare Voraussetzung ist die vorbereitete Umgebung, in der die Entwicklungsmaterialien nach didaktischen Gesichtspunkten geordnet den Kindern angeboten werden. Es sind dies die Entwicklungsmaterialien für die Übungen des täglichen Lebens, die „…dem Menschen helfen, sein inneres Gleichgewicht, seine seelische Gesundheit und sein Orientierungsvermögen unter den gegenwärtigen Umständen in der äußeren Welt zu bewahren.“[8]
Diese pädagogische Absicht gilt ebenso für die Arbeit mit den Sinnesmaterialien, wie auch für die didaktischen Materialien der Sprache, der Mathematik und der kosmischen Erziehung.
Zur Freiarbeit
In diesem Prozess des Gebens und Helfens steckt auch der Sinn der Freiarbeit in einer Montessori-Klasse. Freisein bedeutet nach Maria Montessori vor allem die Freiheit für die eigene individuelle Entwicklung des Kindes und auch der Lehrerin oder des Lehrers.
„Wenn man in der Erziehung von der Freiheit des Kindes spricht, vergißt man oft, daß Freiheit nicht mit Sichüberlassensein gleichbedeutend ist. Das Kind einfach freilassen, damit es tut, was es will, heißt nicht es frei machen.
Die Freiheit ist immer eine große positive Errungenschaft; man kann sie nicht leicht erlangen. Man gewinnt sie nicht einfach dadurch, daß man Tyrranei beseitigt, Ketten zerbricht.
Freiheit ist Aufbau; man muß sie aufrichten sowohl in der Umwelt wie in sich selbst. Hierin besteht unsere eigentliche Aufgabe, die einzige Hilfe, die wir dem Kind reichen können.“[9]
Dieser Prozess einer intensiven persönlichen Entwicklung, eines intensiven individuellen Lernens bedarf einer für alle Beteiligten einsichtigen und akzeptierbaren pädagogischen Struktur. Das Ziel aller Erziehungsbemühungen ist für Maria Montessori die aktive Förderung kindlicher Unabhängigkeit und Selbständigkeit durch Selbsttätigkeit.[10] Und an gleicher Stelle zitiert Hildegard Holtstiege Maria Montessori mit einer anderen Umschreibung dieser Erziehungsabsicht: „Meister seiner selbst zu sein“, ein Zustand, der gleichbedeutend ist mit Freiheit. [11]
Die Arbeit mit den didaktischen Materialien für Sprache, Mathematik oder die Kosmische Erziehung ist zwar ein wesentlicher Bestandteil der Montessori-Pädagogik, aber bei weitem nicht die vollständige Anwendung der Erziehungskonzeption Maria Montessoris. Anderseits ist der Einsatz des Materials unumgänglich beim individuellen Lernen und in seinen didaktischen Effektivität und seinem didaktisch-methodischen Aufbau unübertroffen. Hier dürfen wir zur Erläuterung Jean Piaget zitieren: Für ihn besteht kein Zweifel, daß die wirkliche Bedeutung der mathematischen Erziehung lange vor der Handhabung von Symbolen im intelligenten Gebrauch konkreter Gegenstände liegt.[12] Das didaktische Material ermöglicht den intelligenten Gebrauch konkreter Gegenstände im Sinne des ganzheitlichen Lernens mit Kopf, Herz und Hand. Wer bereit ist, sich in die Arbeit mit den Montessori-Materialien einzulassen, wird diesen zutiefst pädagogischen Satz Jean Piagets erleben und auch erahnen können, was er für das Lernen und Leben unserer Kinder bedeuten kann. Auch Erwachsene können z. B. mathematische Strukturen neu in einer lustvollen Arbeit immer wieder neu entdecken.
Der absorbierende Geist
Nochmals Maria Montessori im Original:
„Wir sind Aufnehmende, wir füllen uns mit Eindrücken und behalten sie in unserem Gedächtnis, werden aber nie eins mit ihnen, so wie das Wasser vom Glas getrennt bleibt. Das Kind hingegen erfährt eine Veränderung: Die Eindrücke dringen nicht nur in seinen Geist ein, sondern formen ihn. Die Eindrücke inkarnieren sich in ihm. Das Kind schafft gleichsam sein „geistiges Fleisch“ im Umgang mit den Dingen seiner Umgebung. Wir haben seine Geistesform absorbierender Geist genannt.“[13]
Erwachsene nehmen ihr Wissen mit Hilfe der Intelligenz auf, das Kind absorbiert es mit seinem psychischen Leben. Gerade darin äußert sich das qualitative Anderssein der frühkindlichen Intelligenz und ihrer Aktivitäten.[14] Kinder sind anders!
Zur Lektion
Die Aufgabe der Lehrerin besteht darin zu zeigen, wie eine Tätigkeit ausgeführt werden soll – zugleich aber die Möglichkeit der Nachahmung auszuschalten. Die Tätigkeit muss für sich selbst sprechen. Die Lehrerin muss dem Kind die betroffene Handlung zeigen, es aber dem Kind überlassen, sie auf seine Weise auszuführen. Sie soll dem Kind helfen, es selbst zu tun. Und noch etwas Wichtiges fügt sie diesem berühmten Satz hinzu: … wir sollten immer lehrend lehren – nicht korrigierend!
„Sie muß das Kind, das arbeitet, respektieren, ohne es zu unterbrechen. Sie muß das Kind, das Fehler macht, respektieren, ohne es zu korrigieren. Sie muß das Kind respektieren, das sich ausruht und das die Arbeit anderer betrachtet, ohne es zu stören und ohne es zur Arbeit zu zwingen. Sie muß aber unermüdlich sein, immer wieder denen Gegenstände anzubieten, die sie schon einmal abgelehnt haben und Fehler machen. Und dies, indem sie seine Umgebung mit ihrem Sorgen belebt, mit ihrem bedachten Schweigen, mit ihrem sanften Wort; mit der Gegenwart jemandes, der liebt.“ [15]
Zur kosmischen Erziehung
Maria Montessori hat ihr pädagogisches Konzept einer Kosmischen Erziehung auf der Grundlage ihrer individuellen kosmischen Vorstellung und ihrer eigenen imaginativen Sicht der kindlichen Entwicklung geschaffen. Sie ging davon aus, dass der gesamten Schöpfung ein einheitlicher „Plan“[16]zugrunde liegt: Unsere Erde, die Natur, stellt eine Ganzheit dar, in der jedes Teil, jede Pflanze und jedes Lebewesen eine Aufgabe für das Ganze erfüllt. Umgekehrt dient das Ganze den einzelnem Teilen. Dadurch wird ein harmonisches Zusammenwirken erzielt und erhalten.[17] Zur Erklärung führt sie die ihrer Meinung nach ersten glänzenden Beispiele an, die Darwin über das enge Zusammenwirken zwischen blühenden Pflanzen und Insekten gegeben hat. Das Insekt, das ausfliegt, seine Nahrung in der Blüte der Pflanze zu suchen, führt unbewusst eine altruistische Aufgabe aus: die Bestäubung der Blüten. Es sichert auf diese Weise die Kreuzung und das Überleben der Pflanzen. Ähnlich führen alle anderen Lebewesen z.B. durch den Prozess ihrer eigenen Ernährung oder der Nahrungssuche eine „kosmische“ Aufgabe aus, die dazu beiträgt, die Natur in einem harmonischen Zustand der Reinheit zu erhalten.[18]
Innerhalb des Systems nimmt der Mensch eine Sonderstellung ein. Während die Natur unbewusst ihren vorbestimmten „Plan“ erfüllt, kann er Entscheidungen treffen. Der Mensch übt eine Veränderung auf die Natur aus. Diese Veränderung ist ( … das wissen wir besonders heute in einer Zeit der Umweltkatastrophen …) nicht immer positiv für die Natur – den Kosmos. Maria Montessori sieht den Menschen eingebunden in einen kosmischen Schöpfungsplan. Ihre erklärte Vorstellung war die einer einzigen universalen harmonischen Gesellschaft, in der gegenseitige Achtung, Hilfe für den Schwächeren, Dankbarkeit und Liebe vorherrschende Tugenden sind. Die Sonderstellung des Menschen besteht vor allem auch darin, dass – wie wir annehmen – der Mensch als einziges Lebewesen dieser Erde über Bewusstsein seines Tuns verfügt und daher die Folgen seiner Handlungen abschätzen kann. Nur er kann in Zukunft und Vergangenheit denken. Daraus resultiert, dass er als einziges Lebewesen bewusst Verantwortung übernehmen kann uns – moralisch gesehen – auch muss. Kosmische Erziehung ist daher auch zu einem wesentlichen Teil Erziehung zur Verantwortung sich selbst, den Mitmenschen und der Umwelt gegenüber. Die Kosmische Erziehung soll dem Menschen helfen, sich seiner kosmischen Aufgabe bewusst zu werden: „Das Werk der Schöpfung fortzusetzen“ (nicht in egoistischer Ausbeutung, sondern im „Dienst“ an dieser Schöpfung.
Maria Montessori selbst sah ihre „kosmische Theorie“ in die Nähe der Religionen gerückt: „Wenn Gott die Wesen intelligent bewegt, gibt er dem Menschen Intelligenz selbst“.[19] Ihre Hoffnung war es, durch eine Kosmische Erziehung das Gewissen und die Verantwortung der Menschen in Harmonie vereinigen zu können. Viele der Vorstellungen Maria Montessoris muten idealistisch an, haben aber heutzutage besondere Aktualität. Ihre Gedanken haben unsere im Wandel begriffene Einstellung zur Natur vor mehr als einem halben Jahrhundert schon vorweggenommen. Nicht als Herren der Schöpfung dürfen wir uns verstehen, sondern als Teil eines Ganzen. Kosmische Erziehung bedeutet für Maria Montessori, dass sich Kinder in ihrer gesamten Persönlichkeit (als Teil des Kosmos) begreifen, verstehen und auch fühlen können.
Aufgabe einer Kosmischen Erziehung ist es nicht nur, dem Kind eine Vorstellung vom Zusammenspiel der Natur und des Menschen zu vermitteln, sondern auch, dem Kind zu helfen, selbst eine Vorstellung vom Werden, dem Sein und den Veränderungen in diesem Universum bilden zu können vor allem, seine eigene höchst individuelle Vorstellung und seine Imaginationskraft entwickeln zu können.
Zur Imagination
Eine der faszinierendsten Eigenschaften von Maria Montessori war ihre Fähigkeit, das heutige Leben mit dem Leben in weit zurückliegender Vergangenheit in Zusammenhang bringen zu können. Ein einfacher Anlass konnte sie bewegen, einen panoramaartigen Überblick über die Entwicklung des Menschen bis zur Gegenwart zu entwerfen, wobei sie das Vorstellungsvermögen ihrer Zuhörer unwiderstehlich stimulierte.
Ihr Sohn Mario Montessori schreibt, dass ihre Entwicklung der kosmischen Erziehung aus dieser ungewöhnlichen Fähigkeit erwuchs, Gegenwart und Vergangenheit durch imaginatives Denken zu verknüpfen. Wie sie selbst darlegte, … (ist)
„die imaginative Sicht von der bloßen Wahrnehmung eines Gegenstandes gänzlich verschieden, denn sie hat keine Grenzen. Die Imagination kann nicht nur unendlich Räume durchmessen, sondern auch unendliche Zeitspannen; wir können die Epochen nach rückwärts verfolgen und eine Vision der Erde haben, wie sie damals war, mitsamt den Geschöpfen, die sie damals bewohnten. Um zu erfahren, ob ein Kind etwas verstanden hat oder nicht, sollten wir zu ermitteln versuchen, ob es sich eine geistige Vorstellung davon bilden kann, ob es über die Ebene des bloßen Verstehens hinausgegangen ist … Das Geheimnis eines guten Unterrichts ist es, die Intelligenz des Kindes als eine fruchtbares Feld anzusehen, auf dem Saat ausgestreut werden kann, um in der Wärme der feurigen Imagination[20] zu keimen. Deshalb ist es nicht nur unser Ziel, das Kind etwas verstehen zu lassen und, weniger noch, es zu zwingen, etwas im Gedächtnis zu behalten, sondern seine Imagination zu berühren, daß sein innerster Kern begeistert wird.“[21]
Maria Montessori strebt im Unterricht und in ihrem Konzept einer Kosmischen Erziehung nicht bloß die Ausstattung des Kindes mit Wissen an. So wäre ihr auch das Wissen um ökologische Zusammenhänge als Bildungsfaktor für die Entwicklung des kindlichen Geistes zu wenig gewesen; selbst mit der Stufe des Verstehens gibt sie sich in ihrer Konzeption noch nicht zufrieden. Sie möchte vielmehr, dass Menschen „aus sich heraus“ mit unserer Hilfe ihre eigene Vorstellung (Imagination) von sich, der Natur und der Schöpfung bilden können. Sie beschreibt hier eine Qualität im Erziehungsgeschehen, die auch heute wahrscheinlich nur wenige Kinder genießen können. Vorstellungen bilden und Wahrheiten entdecken zu können hat auf die moralischen Einstellungen und die Bildung der humanistischen Werte eines Menschen einen großen Einfluss. Ich wage in diesem Zusammenhang die Hypothese, dass Menschen, die ihre eigenen Vorstellungen bilden durften, mit sich, ihren Mitmenschen und ihrer Umwelt moralisch verantwortungsvoller umgehen. Vielleicht ist dies sogar die Voraussetzung zur Friedfähigkeit …
So wird es nach dem Konzept von Maria Montessori möglich sein, die Richtung zu prüfen, in die wir gehen, und Perspektiven zu entwerfen, nach denen man die Dinge so beeinflussen kann, dass wir mit unserer Anpassungsfähigkeit, unserer Intelligenz und unserer Kreativität einen konstruktiven Weg finden, mit dieser unserer Welt umzugehen – einer Welt, die ein wunderbarer Raum ist, um darin zu leben.
Die Sicht des Kindes
Die Sicht von der kindlichen Entwicklung in der Montessori-Pädagogik wird auch durch die grundsätzliche Frage Jean Piagets charakterisiert:
… „ob denn die Kindheit nur ein notwendiges Übel sei, das man so schnell wir möglich beseitigen solle, oder ob wir verstehen können, daß Kindheit einen tieferen Sinn habe, den uns das Kind durch eine spontane Aktivität aufzeigen kann und den es in möglichst reichem Maße auskosten sollte.“[22]
Nach diesem eindeutigen Verweis Jean Piagets auf die Eigenbedeutung der Kindheit, besteht Piaget darauf, dass das Recht auf eine ethische und intellektuelle Erziehung mehr bedeutet als nur das Recht, sich Wissen anzueignen, zuzuhören und zu gehorchen: es ist vielmehr ein Recht, gewissen wertvolle Instrumente für intelligentes Handeln und Denken auszubilden (siehe – z.B. Imaginationsfähigkeit …)
Dafür wird eine spezifische soziale Umgebung benötigt, nicht aber Unterwürfigkeit gegenüber einem festen System. Erziehung in der Schule und in der Familie muss auf die volle Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit ausgerichtet sein. Sie sollte imstande sein, Individuen hervorzubringen, die sowohl intellektuell als auch moralisch autonom sind und solche Autonomie bei anderen respektieren, indem sie das Gesetz der Gegenseitigkeit anwenden, so wie es auf sie selbst angewandt wird.
Diese Auffassung vom Menschen und der menschlichen Entwicklung beinhaltet ein erzieherisches Postulat: Es kann nur dann möglich sein, ethisch denkende Menschen zu erziehen, wenn diesen in ihrem intellektuellen Lernen erlaubt ist, Wahrheiten selbst zu entdecken.
Als eine Besonderheit an der Erziehungskonzeption Maria Montessoris können wir festhalten, dass es ein erklärtes Ziel dieser großen Pädagogin war (ist), menschlichen Wesen bei der gewaltigen Aufgabe des inneren Aufbaus zu helfen, der erforderlich ist, um aus der Kindheit ins Erwachsenenalter hineinzuwachsen.[23] Nach der pädagogischen Theorie Maria Montessoris ist die erste Integration des Menschen in seine Welt in den ersten sechs Lebensjahren von besonderer Bedeutung für die Entwicklung des Menschen.[24] Wir helfen den Kindern bei ihrer Entwicklung durch die Übungen des täglichen Lebens und durch die Übungen zur Sinnesschulung. Wir helfen den Kindern, dass sie Ordnungen finden können, dass sie in Bewegung lernen und ihre eigenen Fortschritte machen können, …
Ab dem sechsten Lebensjahr aber beginnt bei vielen Kindern ein neuer und ebenso bedeutender Entwicklungsabschnitt in ihrem Leben: nicht mehr die Integration ihrer Persönlichkeit in ihre Umwelt, sondern die Integration ihrer selbst steht im Vordergrund.
Wenn ein Kind in den ersten sechs Lebensjahren die Hilfe erhalten hat, wie wir sie oben beschrieben haben, findet „eine Integration der Persönlichkeit“[25] ungefähr um das sechste Lebensjahr herum statt.
„Die kosmische Erziehung bietet die Art von Hilfe, die die neuen, auf dieser ersten Integrationsebene konsolidierten Potentialitäten aktiviert. Der Weg für diese Aktivierung ist durch indirekte Vorbereitung auf einer früheren Stufe geebnet worden. Alle Erfahrungen, die dem Kind früher in der vorbereiteten Umwelt geboten wurden, waren Grunderfahrungen, die entweder für die Ausbildung späterer Funktionen oder als Schlüssel gebraucht wurden, durch die es seine Welt erkunden oder sich in ihr orientieren konnte. Wenn es diese zweite Phase der Reife erreicht, sollte ihm eine umfassendere Sicht der Welt geboten werden, d.h. eine Sicht des ganzen Universums.[26]
Tatsächlich beginnen Kinder in diesem Alter die für ihre geistige Entwicklung wichtigen philosophischen Fragen zu stellen: „Wer hat die Welt gemacht?“ „Woher kommt die Welt?“ „Woher komme ich?“
In Konsequenz einer Konzeption der Kosmischen Erziehung kann es nun nicht darum gehen, den Kindern abgeschlossene und ihr Denken und Fragen abschließende Antworten zu geben. Vielmehr geht es darum, die Imaginationsfähigkeit der Kinder anzuregen, sodass sie ihre eigenen Vorstellungen ihre Fragen betreffend entwickeln können. Maria Montessori gibt uns einen wesentlichen Hinweis, wie wir dem Interesse der Kinder am Universum und am Universellen, ihrem Interesse am Großen und Umfassenden begegnen können: Den Kindern die Details geben, aus denen sie das Ganze erschließen können.
„Kinder dieser Altersstufe sind fasziniert, weil diese Geschichte sie persönlich betrifft. Sie beginnen, sich ihrer eigenen Situation als sich entwickelnde menschliche Wesen bewußt zu werden und sie werden auf natürlich Weise des Unterschieds zwischen dem Menschen und anderen Lebewesen gewahr. Zwischen beiden und der Umwelt besteht eine Wechselbeziehung. Diese Wechselbeziehung wird deutlich in dem, was Maria Montessori als kosmische Aufgabe bezeichnet – den Dienst, den die Individuen, den die Individuen jeder Spezies ihrer Umwelt leisten müssen, von der ihre Existenz abhängt, um sie in der Weise zu erhalten, daß sie auch ihren Nachkommen, Generation nach Generation, Unterhalt bietet.“[27]
Es ist nicht leicht für Lehrer, die Details auszuwählen, aus denen für Kinder das Ganze erschließbar wird. Martin Wagenschein gibt uns hier sicher einige Hilfen, wenn wir sein Prinzip des Exemplarischen beachten, das wunderbar zum Konzept einer kosmischen Erziehung passt.
Zusammenfassung
Maria Montessori hat ein in sich geschlossenes didaktisches System geschaffen. In dessen Mittelpunkt steht zwar die Selbstbestimmung des Kindes, doch in einem vom Pädagogen vorgegebenen Rahmen und einer vorgegebenen Struktur.
Hervorzuheben ist die Qualität der Entwicklungsmaterialien zur Selbstbildung der Kinder. Diese Materialien sind sicher einzigartig in ihrer Materialisierung eines abstrakten Inhaltes und in ihrer Kindgemäßheit.
Im Mittelpunkt der Pädagogik steht ausschließlich die Entwicklung des Kindes. In diesem Sinne ist es eine Pädagogik vom Kinde aus für das Kind.
[1] Nach Holtstiege, Hildegard, Maria Montessori und die reformpädagogische Bewegung, S.35
[2] Montessori, Maria, a.a.O., S.69
[3] Montessori, Maria, Die Entdeckung des Kindes, Freiburg 1966 (früher: Selbsttätige Erziehung im frühen Kindesalter, Stuttgart 1913), S.36
[4] Hegel, G.W.F., „Gymnasialreden“, in: Werke in 20 Bänden, 4.Bd., Nürnberger und Heidelberger Schriften, 1808-1817, Theorie-Werkausgabe, Frankfurt a.M., 1970, S.332
[5] Montessori, Maria, Schule des Kindes, Freiburg 1976, S.50f.
[6] Montessori, Maria, Schule des Kindes, Freiburg 1976 (früher Montessori-Erziehung für Schulkinder, Stuttgart 1926), S.69f.
[7] Montessori, Maria, a.a.O., S. 70
[8] Montessori, Maria, Über die Bindung des Menschen, Freiburg 1966, S.21
[9] Montessori, Maria, Die Selbsterziehung des Kindes, in: Franz Hilker, Die Lebensschule, Heft 12, Berlin 1923, S. 9
[10] Holtstiege, Hildegard, Modell Montessori, Freiburg/Breisgau 1977, S.16
[11] Montessori, Maria, Grundlagen meiner Pädagogik, Heidelberg 1968 (München 1934), S.23
[12] Piaget, Jean, Das Recht auf Erziehung und die Zukunft unseres Bildungssystems, München 1975
[13] Montessori, Maria, Das kreative Kind, S. 23
[14] Holtstiege, Hildegard, Modell Montessori, S. 75
[15] Internationaler Montessori-Kursus Barcelona 1938
[16] Plan = Schöpfungsplan nach Maria. Montessori
[17] Vgl. Montessori, Maria, Von der Kindheit zur Jugend
[18] Vgl. Montessori, Maria, Von der Kindheit zur Jugend
[19] Vgl. Montessori, Maria, Von der Kindheit zur Jugend
[20] Imagination – Einbildungskraft, Vorstellungskraft
[21] Montessori, Maria, To Educate the Human Potential
[22] Piaget, Jean, Das Recht auf Erziehung und die Zukunft unseres Bildungssystems
[23] Vgl. Montessori, Mario, Erziehung zum Menschen, S 131 ff.
[24] Vgl. hierzu Montessori, Maria., Die Entdeckung des Kindes, S. 47ff.
[25] Maria Montessori versteht darunter, dass sich das Kind nur verstärkt sich selbst, der bewussten Entwicklung seiner Persönlichkeit und metaphysischen Fragen zuwendet.
[26] Montessori, Mario, ebenda
[27] Montessori, Mario, ebenda